Der Wendigo

Der Wendigo in den Wäldern Amerikas

„Die Abstände zwischen den Abdrücken wurden jedoch bald immer größer, und zuletzt lagen diese so weit auseinander, dass man sich nicht mehr vorzustellen vermochte, wie irgendein gewöhnliches Tier sie hätte hinterlassen sollen.“

So beschrieb 1910 Algernon Blackwood, ein britischer Journalist und Esoteriker, in einer Kurzgeschichte die erste Begegnung einer Jagdgesellschaft in den Wäldern des Amerikanischen Nordens mit einem indianischen Mythos.

In seiner Erzählung verarbeitete Blackwood so ziemlich alles, was über ein unheimliches Wesen der kalten Wälder zu erfahren war, an das die Algonkin-Indianer glaubten. Seine Geschichte machte den „Wendigo“ über die Grenzen Nordamerikas hinaus bekannt.

Riese oder Schattenwesen

Im Gegensatz zu Bigfoot, dem berühmten amerikanischen Affenmenschen, ist der Wendigo eine sehr komplexe Figur, die von den Indianern sehr unterschiedlich beschrieben wurde. In den Geschichten taucht der Wendigo manchmal als ein Geist mit vage menschlicher Gestalt auf, jedoch so dünn, dass man ihn in der Seitenansicht kaum sehen kann.

In anderen Erzählungen besitzt er ein Fell und Klauen, und in wieder anderen berichten Augenzeugen nur von einer Art Schatten oder einem nach Verwesung riechenden, zombieähnlichen Skelett, an dem die Haut herunterhängt.

Für die Angehörigen einiger Stämme trat der Wendigo auch als Riese auf, der mit jedem Opfer, das er fraß, größer wurde. Als weitere Eigenschaften des unter anderem auch als Windigo, Widigo oder Witiko auftretenden Ungeheuers wurden glühende Augen und fahle Haut beschrieben. Das Wesen streift durch die Wälder Minnesotas und Kanadas und tötet auf der Suche nach Menschenfleisch Jäger, die ihm zu nahe kommen.

Doch den vielleicht wichtigsten Aspekt hatte Blackwood in seiner Geschichte ignoriert: Kannibalismus. Denn das Ungeheuer ist entweder ein Geist, der einen Menschen befällt, so dass dieser sich in einen Wendigo verwandelt und daraufhin seine menschlichen Opfer frisst. Oder aber ein Mensch verzehrt einen anderen, um in Kälte und Not nicht zu verhungern. Dann wird er zum Wendigo.

Einer der ersten Europäer, die vom Wendigo-Mythos berichteten, war der deutsche Entdecker Johann Georg Kohl. Er hatte 1854 am Lake Superior von den dort ansässigen Franko-Kanadiern und ihren einheimischen Frauen etliche Geschichten über Menschen gehört, die in Hungerzeiten andere Menschen verzehrt hatten. Und am Nordufer des Sees, so wurde ihm erzählt, sei ein „wilder Mann“ in den Wäldern auf Menschenjagd. Es handele sich, so wurde ihm gesagt, um einen Wendigo.

Die Anishinabe-Indianer kannten eine „Windigo- oder Kannibalen-Krankheit, benannt nach dem schrecklichen Windigo Manitou (Manitou = Geist), der seine unnatürliche Kraft nutzt, um Menschen umzubringen – selbst seine Verwandten – um sie zu essen“, berichtet etwa Catherine Murton Stoehr von der Queen’s University in Kingston, Kanada.

„Ein solcher Verrat an der Verantwortung gegenüber Familienmitgliedern, zusammen mit dem Missbrauch von Macht, lies den Windigo für die Anishinabe als so schrecklich erscheinen, dass viele Windigo-Geschichten damit enden, dass die gesamte Gemeinschaft sich zusammentat, um das Monster zu töten.“

Kälte, Hunger und Kannibalismus

Vermutlich ist der Mythos also im Zusammenhang mit den kalten, entbehrungsreichen Wintern in Nordamerika entstanden, in denen viele Familien vom Schnee eingeschlossen und so von Hunger und Kälte bedroht waren.

Ausgehungert, Nase, Lippen, Zehen und Finger abgestorben – das Erscheinungsbild der Opfer erinnert an die Beschreibungen des Wendigo. Wahrscheinlich ist es manchmal zu Kannibalismus gekommen. Vielleicht sollte die Legende helfen, dieses Verhalten innerhalb von Familien oder Stämmen zu verhindern.

Am Leben erhalten wurde der Mythos nicht nur durch Menschen, die tatsächlich zu Kannibalen wurden.

Dazu kamen vor allem im 19. Jahrhundert auch Fälle einer sogenannten Windigo-Psychose. Etwa 70 Berichte zählte Lou Marano von der University of Florida, Gainesville, bis 1982 – wobei allerdings in keinem einzigen Fall Beweise für das wendigotypische „unwiderstehliches Verlangen nach Menschenfleisch“ bei den Betroffenen vorlagen.

Vielmehr, so vermutet Marano, litten bei den Indianern, wie überall, manchmal Kranke unter Wahnvorstellungen. Vor dem Hintergrund ihrer Kultur und dem Wendigo-Mythos gelangten manche psychisch kranke Menschen dann offenbar zu der Überzeugung, sich in einen Wendigo zu verwandeln. Und um zu verhindern, dass sie jemanden umbrachten, wurden sie von ihren Mitmenschen getötet oder begingen Selbstmord.

Ähnliche Phänomene kennt man aus anderen Teilen der Welt, wo sich die Kranken dann nicht in Wendigos zu verwandeln glauben, sondern in Tiere, die in ihrer Kultur eine wichtige Rolle spielen. In Europa waren dies zum Beispiel Wölfe, in Afrika Leoparden. Fachleute sprechen von „Lycanthropy“. Und vermutlich liegt hier auch der Ursprung der Werwolf-Legenden.


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