Medizinische Mythen aufgeklärt

 

Eisen im Spinat

Dies ist das Paradebeispiel für einen Irrtum, der durch stete Wiederholung zur vermeintlichen Wahrheit wurde: Das Grünzeug mag Popeye stark machen, viel Eisen aber enthält es nicht. Ein medizinisches Fachblatt trug nun die populärsten Legenden zusammen, an die selbst Ärzte glauben.

Die Legende vom außergewöhnlich eisenhaltigen Spinat kam bereits 1890 in die Welt: Der Physiologe Gustav von Bunge hatte korrekt den Eisengehalt von 100 Gramm Spinat mit 35 Milligramm bestimmt. Allerdings hatte er getrockneten Spinat untersucht, der zehnmal so viel Eisen enthält wie die gleiche Menge frischen Krautes. Das hier aber Konzentrat mit Frischware verglichen wurde, geriet bald schon in Vergessenheit: Die Mär vom Gemüse, mit dem sich Mangelerscheinungen kurieren lassen, ging um den Globus – und lebt fort.

Ihren populären Ausdruck fand sie in Popeye (*1929), in Deutschland lange mit dem Beinamen „der Spinatmatrose“ bekannt, der wahrlich keinen Mangel leidet: Er führt sich Dosenspinat in Massen ein, worauf ihm die Muskeln schwellen – ein Mann mit Fäusten aus Eisen.

Das tatsächlich im Spinat enthaltende Eisen ist für Menschen per Verdauung noch nicht einmal verwertbar. Korrekt wäre es nach aktuellem Kenntnisstand, seinem Nachwuchs die Vorzüge des grünen Papps stattdessen mit seinem Vitamin-, Eiweiß- und Mineralgehalt zu begründen. Seit Generationen aber muss das Eisen herhalten, das gesunde Kraut schmackhaft zu machen: Legenden sind hartnäckig.

Das medizinische Fachblatt „British Medical Journal“ eine Studie über Legenden und medizinische Mythen, die seit Jahrzehnten sogar noch von Ärzten geglaubt werden. „Was uns darauf brachte“, zitiert „LiveScience“-Studienleiter und Autor Aaron Carroll von der medizinischen Fakultät der Indiana University, „war, dass Ärzte diese Mythen akzeptierten und an ihre Patienten weitergaben. Und diese Legenden werden auch in den populären Medien immer wieder zitiert.“

Mit seiner Co-Autorin Rachel Vreeman trug er sieben der hartnäckigsten Legenden zusammen – und dokumentierte stichhaltige Quellen, die sie entkräften. Die Liste liest sich wie ein Kompendium des irregeleiteten medizinischen Alltagswissens.

 

Mythos: Wir nutzen nur einen Bruchteil unserer Hirnkapazitäten

Wer hat diese Behauptung noch nicht gehört? Dass der Mensch nur 10 Prozent, mitunter heißt es 25 Prozent, seiner Hirnkapazität nutze, befeuert seit Jahrzehnten nicht zuletzt die Phantasie zahlreicher Sci-Fi-Autoren: Was, wird da oft spekuliert, wäre dem Menschen noch alles möglich, wenn er die grauen Zellen einmal vollständig aktiviere? Von genialischen Geistesleistungen bis hin zu Telepathie, Teleportation und Telekinese erscheint da alles denkbar.

Leider ist es Unsinn: MRI- und PET-Untersuchungen zeigen genauso wie biochemische Verfahren keinerlei inaktive Bereiche im Gehirn. Eine wissenschaftliche Wurzel des Gerüchts konnten Vreeman und Carroll auch nicht finden: Sie vermuten, dass die Legende von Quacksalbern in die Welt gesetzt wurde, die ihren Kunden hoch geistige Getränke als Hirnstimulantien unterjubeln wollten. Was ja auch irgendwie stimmt, wenn man davon absieht, dass sich die beabsichtigte Wirkung mit solchen Mitteln nur gefühlt einstellt. Immerhin soll es Menschen geben, die so nahezu metaphysische Wahrnehmungssteigerungen erreichen – bis hin zur Sichtung weißer Mäuse, die sonst niemand sieht.

 

Mythos: Der Mensch braucht zwei Liter Wasser am Tag

„Es gibt keine medizinischen Beweise dafür, dass man so viel Wasser braucht“, behauptet Rachel Vreeman. „Flüssigkeit“ wäre der korrektere Begriff, und genau da vermuten die Forscher die Wurzel des Gerüchtes: Wahrscheinlich gehe es auf eine vor Jahrzehnten veröffentlichte Ernährungsempfehlung des amerikanischen Nutrition Council zurück, der den Bürgern so viel Flüssigkeitsaufnahme angeraten hatte – und dabei durchaus die Flüssigkeit in Obst und Gemüse sowie diversen Getränken eingeschlossen hatte.

Sportler wissen, wovon der Flüssigkeitsbedarf ansonsten abhängt: Von klimatischen Rahmenbedingungen, Körpermasse und Konstitution und dem Grad körperlicher Aktivität. Ein Zuviel an Wasserzufuhr kann den menschlichen Körper sogar schädigen, gerade wenn man viel schwitzt: Man entzieht sich Salz. Die pauschale Behauptung einer empfohlenen Menge hält einer Überprüfung jedenfalls nicht stand: Der eine braucht mehr, der andere weniger – und wir alle brauchen in unterschiedlichen Situationen wechselnde Mengen.

 

Mythos: Haare und Fingernägel wachsen auch nach dem Tod noch weiter

Die meisten der von Vreeman und Carroll befragten Mediziner bejahten diesen Mythos spontan: Dass Fingernägel und Haare weiterwachsen, wissen wir nicht nur aus unzähligen Horrorfilmen. Dieser Glaube ist so fest verwurzelt, dass wir alle das einfach „wissen“. Mediziner allerdings, zeigen Vreeman und Carroll, kommen von selbst darauf, dass das nicht stimmen kann, wenn sie auch nur kurz darüber nachdenken: Was tot ist, wächst nicht.

Denn natürlich sind Haare und Nägel Produkte von Lebensprozessen. Dass diese an älteren Leichen mitunter länger wirkten, als zum Zeitpunkt des Todes, liege daran, dass sich nach dem Ableben andere Zellen des Körpers weit schneller zersetzten und zurückzögen. Sprich: Die Fingernägel werden zu Klauen, weil die Finger darunter schwinden.

 

Haare wachsen schneller und werden dunkler, wenn man sie rasiert

Verraten Sie es nicht Ihrem 13-jährigen Sohnemann, der gerade mit Papas Rasierer versucht, seinen Erstflaum zum Rauschebart zu veredeln: Das wird wohl nichts. Denn entgegen dem weit verbreiteten Glauben beschleunigt die Rasur das Haarwachstum in keiner Weise – und definitiv werden Haare dadurch nicht dunkler oder dicker.

Die erste Studie zu diesem Thema wies das bereits 1928 zweifelsfrei nach und wurde mehrere Male bestätigt. Die Legende hält sich trotzdem und wird dies wohl auch weiter tun, was ja auch großartig ist: Wie sollte man Sohnemann sonst dazu bringen, ein einigermaßen gepflegtes Äußeres zu wahren (obwohl er mit der Körperpflege genau das Gegenteil erreichen will)?

Damen mögen dagegen beruhigt sein: Der Rasierer verschlimmert nichts. Optisch allerdings hat man schnell den Eindruck: Steil stehende Stoppeln sind auffälliger als flach anliegende feine Härchen. Und auch die Sohnemänner dieser Welt sehen sich in ihrem Glauben an die männlicher machende Kraft des Rasierers seit Urzeiten bestätigt: Wenn man es nur oft genug wiederholt, werden die Haare tatsächlich immer dicker, dichter und dunkler.

 

Mythos: Lesen bei schlechtem Licht verdirbt die Augen

Noch so eine Sache, die Sie ihren Kindern besser nicht erzählen sollten: Das Lesen bei Taschenlampenlicht schadet den Augen doch nicht. Wohl aber den schulischen Leistungen, weil es gemeinhin zu lasten der Schlafzeit geht: Lehrer können ein Lied davon singen, immer dann, wenn gerade ein neuer Harry Potter auf den Markt geworfen wird.

Was wohl wahr ist, sagen Carroll und Vreeman, ist, dass es die Augen natürlich stärker anstrengt und ermüdet. Irgendwann sieht man dann womöglich nicht mehr klar, die Buchstaben verschwimmen, werden schwerer zu erkennen, eventuell stellt sich Kopfschmerz ein. Heilen lässt sich das mit einer Matratze, ein paar Kissen und ein paar Stunden Schlaf – permanente Schädigungen durch Lesen im Zwielicht aber, sagen die Forscher, lassen sich nicht nachweisen.

 

Mythos: Handys sind ein Risiko in Krankenhäusern

Die Debatte um die angebliche Schädlichkeit von Elektrosmog durch Handys ist keine von der sachlichen Sorte: Die gegnerischen Parteien befehden sich mitunter mit quasi-religiösem Eifer.

In Bezug auf den Handy-Einsatz in Krankenhäusern kursieren geradezu horrende Legenden: Das reicht von Interferenzen mit medizinischen Monitor-Geräten bis hin zum Herzstillstand durch Schrittmacherausfall. Handy-Skeptiker rufen darum regelmäßig nach einem generellen Verbot in Krankenhäusern.

Dafür aber scheint es keinen Grund zu geben: Beweise oder dokumentierte Fälle von Schäden durch Handys in Hospitälern gibt es nicht – und zwar nirgendwo. Auch Geschichten über kleinere Störfälle, die sich beispielsweise über die Medien verbreiten, fanden Vreeman und Carroll „anekdotisch“ und nicht zu belegen. Nachgewiesen in mehreren Studien zum Thema sei allenfalls ein Störpotential, das sich auch experimentell nachweisen ließe: Allerdings nur, wenn man diese Störung aus extrem kurzem Abstand gezielt verursache.

Positive Effekte des Handy-Einsatzes in Hospitälern ließen sich dagegen leicht nachweisen; durch die verbesserte Kommunikation ließen sich Reaktionszeiten verkürzen, würden weniger Fehler gemacht.

 

Mythos: Putenfleisch macht müde

Diese Legende ist in unseren Breiten nicht wirklich verbreitet, wohl aber in der angelsächsischen Welt: Der Verzehr von Putenfleisch soll geistig träge und müde machen, wenn nicht gar schwindelig.

Wie sich das für eine echte Legende gehört, hat auch diese wohl einen wahren Kern: Sie lässt sich allerdings auf beliebige andere Fleischsorten erweitern, wie wir alle wissen und in der nächsten Woche experimentell im Selbstversuch noch einmal bestätigen werden. Wer übergroße Mengen Fleisch zu sich nimmt, mag all die geschilderten Symptome erleben – es wäre seltsam, wenn das nicht so wäre. Denn ein Übermaß an Fleisch beschäftigt den Magen kräftig. Der Kopf und restliche Körper mag in dieser Zeit weniger gut versorgt werden.

In Amerika glaubt man an die Legendenvariante, Putenfleisch enthalte eine Chemikalie, die Schwindelgefühle verursache. Der Mythos wird jedes Jahr zu Thanksgiving millionenfach verifiziert. Der klassische Versuchsaufbau besteht aus einer Pute von der Größe eines Kleinsauriers und dazu einer Auswahl geistiger Getränke. Wer da nicht müde oder schwindelig wird, experimentiert wohl regelmäßig.

 

 

Und hier noch ein paar mysteriöse Themen – Geheimnisvoll & Rätselhaft: